Vor einer Woche ging ein Raunen und Poltern durch die Kulturwelt. Das Buch „Der Kulturinfarkt“, noch nicht einmal erschienen, glänzte bereits in der Vorankündigung mit der Provokation, dass man in der deutschen Kulturlandschaft „auf die Hälfte aller Theater, Museen, Bibliotheken, Orchester in Deutschland eigentlich verzichten“ könne. Die Reaktionen kamen promt, lassen aber bei mir deutlich das Gefühl übrig, dass die Kritik am System auf voller Breite traf und die Verantwortlichen im Kulturbetrieb alles andere als darauf vorbereitet waren. Die angeführten Gegenargumente des Deutschen Kulturrates wiegen in meinen Augen alles andere schwer und werden es auch bei Leibe nicht, indem man vor jedem Argument ein beschwörendes „Fakt ist:“ einschiebt.
Fakt ist: der Kulturbereich ist ein sehr kniffliges Gebilde mit zahlreichen Verflechtungen.
Auch ist der Vorwurf der Nestbeschmutzung, der sowohl vom Dt. Musikrat und auch von der Deutsche Orchestervereinigung als Hauptargument auf Spielfeld geworfen wird, alles andere als ein Zeugnis von Unschuld.
Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) fordert die vier Autoren des Artikels „Die Hälfte?“ auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und die von ihnen geforderte Halbierung der öffentlichen Finanzierung von Kultureinrichtungen zunächst in ihren eigenen Institutionen umzusetzen und damit die Machbarkeit ihrer Pläne quasi „am eigenen Leib“ zu demonstrieren.
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„Es ist zudem nicht ohne Brisanz, wenn die eigentlichen Nutznießer der Diskussion, die die Autoren mit ihrem Artikel anzustoßen versuchen, zunächst sie selbst sind“, empört sich Mertens. „Nicht für eine Verbesserung der Kulturlandschaft ziehen die Herren Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz hier vor allem zu Felde, sondern für eine bessere Auftragslage ihrer ohnehin schon regen privaten Beratertätigkeit.
Die vielen Kommentare und die Tatsache, dass plötzlich alle über ein Buch reden, welches noch nicht einmal auf dem Markt ist, die wenigsten also tatsächlich schon gelesen haben, spielen bei meiner Wahrnehmung natürlich eine wichtige Rolle. Ob wir das Buch jetzt überhaupt noch lesen müssen, steht mittlerweile auch auf einem ganz anderem Blatt. Wirklich wichtig ist vor allem der damit angestoßene Diskurs und die damit anschließenden Fragen.
Wissen wir, warum wir so viele Kultureinrichtungen brauchen? Sind Veränderungen, die auch in den Forderungen nach mehr „mehr Individualität, mehr Laienkultur“ formuliert sind und z.B. auch in etwa das widerspiegeln, was wir ebenfalls als Veränderung durch das Aufkommen von Web 2.0 und Social Networks beobachten, darin schon mitgedacht?
Viele Spieler – ungleiche Verteilung
Beim Studieren der bisherigen Reaktionen läßt sich aber noch mehr beobachten. Bei aller Kritik am „ganzheitlichen System“, sind die Gewichtungen unter den Beteiligten am System nicht gleich verteilt. Manche, die eigentlich dazu gehören, stehen sogar nur als Zuschauer am Rand. Die Bälle, die „Der Kulturinfarkt“ spielt, schießen nicht nur in verschiedene Richtungen, sondern es stehen auch mindestens fünf Mannschaften auf dem Spielfeld. Die „Nutzer“ der Kultureinrichtungen, die Vertreter der staatlich geförderten Kultureinrichtungen, die Gruppe der Künstler, das Gruppe der Verbände und Strukturen und die Politiker. Warum dürfen die Medien eigentlich die Zuschauerrolle einnehmen?
Beim Zusammenziehen aller Reaktionen und nach dem groben Aufdröseln der Beteiligten im Diskurs, bleibt für mich eine wichtige Erkenntnis: Die Kultureinrichtungen stehen ohne eigene Verteidigung auf dem Spielfeld. Natürlich ist der Vorschlag, auf die Hälfte aller Kultureinrichtungen zu kürzen, eine Provokation, die Langzeitfolgen sind aber schon jetzt vorhersehbar, wenn der Hörfunkdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks Johann Michael Möller auf der CDU-Veranstaltung „Denkfabrik Sachsen“ im Panel „Forum Kultur: Kulturwirtschaft – Kreativität trifft Unternehmergeist“ als Anmerkung den „Kulturinfarkt“ mit einbringt und sinngemäß als nicht vollkommen unbegründet kommentiert.
Die Kulturbetriebe selbst sollten aufwachen und aktiv werden. „Der Kulturinfarkt“ macht in erster Linie eines, er reißt die rosarote Brille des Vertrauens herunter, ein Vertrauen in Struktur und Wohlwollen. Anstatt der Kritik mit fadenscheiniger Gegenwehr zu begegnen, sollte sich jeder klar darüber werden, dass Kritik zugleich die größte Chance ist, die man überhaupt bekommen kann. Kultur ist stets ein Prozess im Wandel und an mehr als drei Ecken wird derzeit an der Vision Zukunft diskutiert.
„Suche die Konfrontation“, denn nur dadurch kann man „die Fähigkeiten und das Wissen seines Teams und weiterer Stakeholder“ nutzen. Fritz Straub, Geschäftsführer der Deutschen Werkstätten Hellerau hat es gestern auf dem Forum Kreativwirtschaft deutlich formuliert: „Wir brauchen die Menschen, die die Freiheit wollen und die die Freiheit leben.“ Gemeint hat er damit die Mitarbeiter seines Unternehmens. Für den Weg dahin investiert er auch gern zwei Tage Produktionsstillstand, um das Kritik üben zu lernen, die Streitkultur im Unternehmen zu pflegen.
Da Streitkultur in unserer Gesellschaft ein Gut ist, welches zu Pflegen gilt, ist es auch der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung ein ganzes Jahresprogramm wert. Spätestens hier sollte klar werden, dass die Pflege von Kultur als eine der Hauptaufgaben des Kulturbetriebes mehr als gegenwärtig ist, dass wir auf gesellschaftlicher, auf wirtschaftlicher, wie auch auf politischer Ebene händeringend danach suchen und der Kulturbetrieb mit allen, vor allem auch neuen, partizipativen Formen sich in den Wind stellen muss!